Seit der Grundsteinlegung zum Wiederaufbau des Berliner Schlosses als Humboldt-Forum im Mai 2013 entsteht am historischen Standort der alten, 1951 vollständig gesprengten Residenz ein Neubau als Synthese rekonstruierter und neu entworfener Baukörper nach dem Entwurf von Professor Franco Stella. Das historische Berliner Schloss vereinigte in seinen zahlreichen Gebäudeflügeln ein umfangreiches bauliches Erbe europäischer Architekturen, dessen älteste Teile, zwischen Schlüterhof, Schlossplatz und Spree gelegen, bis ins 15. Jahrhundert datierten. Hier befand sich im ersten Obergeschoss die zwischen 1824 und 1827 ausgestattete Wohnung des damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (IV.). Nach Plänen Karl Friedrich Schinkels entstand ein königliches Appartement aus restaurierten historischen Ausstattungen und vier neu gestalteten Räumen, dessen künstlerischer Ausdruck nichts mehr mit den stilreinen Raumfolgen des 18. Jahrhunderts und des Empire gemein hatte. Vielmehr verkörperten die Räume in ihrer Unterschiedlichkeit das ausgeprägte Interesse Friedrich Wilhelms an Kunst, Architektur und Geschichte. Der neu gestaltete Teesalon beispielsweise beeindruckte durch seine architektonische Wandgliederung, seine eleganten Zinkgussreliefs, seine großformatigen Wandmalereien und die bis heute vollständig erhaltene Serie Christian Friedrich Tiecks von fünfzehn Figuren aus der griechischen Mythologie.
Als Reaktion auf den baulichen Totalverlust der Räume wurde eine umfangreiche Sammlung von historischen Plänen und Fotografien sowie eine Dokumentation erhaltener Originale und Kopien angelegt, auf deren Grundlage unter Anwendung zeitgenössischer Proportions- und Konstruktionsregeln Rekonstruktionszeichnungen der vier Schinkelräume und des friderizianischen Schreibkabinetts hergestellt werden konnten. Darüber hinaus erfolgten thematische Vertiefungen zu gestalterischen Inhalten, zu zeitgenössischen Techniken und zur Reproduzierbarkeit des baulichen Dekors. Als wesentlicher Ideengeber klassizistischer Architektur wird der Themenkomplex der Antikenrezeption dort aufgegriffen, wo eine direkte Vorbildfunktion erkennbar ist.
Die Wohn- und Repräsentationsräume des Kronprinzen waren auch eine Demonstration der rasanten Entwicklung des Baugewerbes und in dieser Hinsicht der avantgardistische Ausdruck einer neuen Generation. Stuckmarmor von bisher unbekannter Natürlichkeit und Zinkgüsse von bestechender Präzision fanden ihre Bewunderer unter den vielen Besuchern der Räume. Kopien einzelner Elemente des baulichen Dekors und der Bildhauerei erreichten bald eine erstaunlich große Verbreitung. Wilhelm von Humboldt und Johann Wolfgang Goethe erhielten Abgüsse einiger Götter- und Heldenfiguren aus dem Teesalon. Humboldt beauftragte auch eine nahezu identische Kopie der Kamine des Sternsaals, dessen Friesrelief man außerdem noch heute im Kopenhagener Palais Frederiks VIII. wiederfindet. Die Exklusivität königlicher Interieurs galt forthin nicht mehr, Friedrich Wilhelm wurde in Stilfragen zu einem Vorbild der intellektuellen Elite seiner Zeit, auch über die Grenzen seines Landes hinaus.
Die ohne vorhandene Bausubstanz oder archäologische Grabungsfunde, sondern nur auf der Grundlage von differenziertem Quellenmaterial und einigen Referenzobjekten erstellten Rekonstruktionszeichnungen ermöglichen eine neue Erlebbarkeit der einstigen Interieurs. Architektonische Gliederungen mit ihrer begleitenden Ornamentik werden in ihren Wechselwirkungen mit den Skulpturen und Malereien nachvollziehbar und verständlich. Das Zeichnen selbst wird durch die Wiedergewinnung des einstigen Kontexts baulicher Einzelheiten zu einem Erkenntnisprozess. In dieser neuen Sichtbarmachung des Zerstörten lag das primäre Anliegen des Referenten, dessen Forschungen seit Anfang des Jahres nunmehr gebündelt in einer im Deutschen Kunstverlag erschienenen Monographie vorliegen.